Knallfrosch (125 Posts bisher) | | Meine Tage mit Jari Hanonen
Die Sonne neigte sich der Stadt hinzu. Der Verkehr wollte nicht stoppen. Beim langen herumsitzen auf meinem kleinen Balkon fällt mir auf, dass es hier in Helsinki viele blaue Autos gibt. Hmm... ich weiß nicht, was ich in diesem Verkehr suche. Letztens hatte ich einen Autounfall. Vielleicht bin ich noch nicht darüber hinweg... Meine Gedanken kreisen um den Mann, der in dem anderen Fahrzeug saß. Die Ärzte meinten er liege im Koma. Wie es wohl so ist, wenn man im Koma liegt? Woher soll ich das wissen. Seit dem Unfall quälen mich die selben Gedanken Tag und Nacht: Wie geht es ihm? Wer ist er? Und ich werde dieses Gefühl nicht los diesen Mann besuchen zu müssen. Zwei Tage ist es her. Morgen werde ich ins Hospital gehen und ihn besuchen. Darf man das eigentlich so einfach? Auf einen Versuch kommt es an. Ich sollte langsam schlafen gehen, auf die Sonne kann ich nicht warten. Die geht in diesen Tagen eh nicht unter. Würde mich nerven, so als Sonne...
„Terve Bonnii! Übernimmst du jetzt für mich? Ich mache Feierabend.“ Bonnii ist einer meiner Angestellten. Der kleine Plattenladen ist mein ganzer Stolz. Ich betreibe ihn schon seit einigen Jahren.
Auf der Straße weht ein angenehmes Lüftchen. Das Hospital liegt außerhalb von Helsinki, eine gute Dreiviertelstunde werde ich brauchen. Die Fahrt ist nicht sehr angenehm, ein alter Mann, der wahrscheinlich nichts von Körperhygiene hält, kommuniziert lautstark mit seinem zweiten Artgenossen. Seit fünf Haltestellen bete ich, dass es endlich die vom Hospital ist. Nun stehe ich direkt davor, riesige alte Linden werfen ihre Schatten.
-Mist! Hier ist er auch nicht! Wo ist der verdammte Ausgang? Ich sehe nichts, aber doch erkenne ich alles! Was mache ich hier eigentlich? War das nicht gerade eine Tür? Aber wo öffnet sich eine? Werde ich jetzt paranoid? Die Person scheint sich zu nähern.-
Da lag der Mann mit vielen Schläuchen verbunden. Es wirkte als würde er schlafen. Rede ich jetzt mit ihm? „Terve Herr Hanonen...“ beginne ich langsam. „Ich bin Siiri Jensen. Äh ja ich bin ähm die Frau in dem anderen Wagen gewesen und ähm ich wollte mich entschuldigen, sie wissen schon wegen dem Unfall...“
–Unfall? Welcher Unfall?! Wer ist sie überhaupt? Wo ist sie? Wo bin ich?-
Schon seltsam, nun stehe ich hier seit fünf Minuten. Irgendwie warte ich auf seine Antwort. Obwohl ich weiß, dass er es nicht tun wird, kann ich mich nicht einfach umdrehen und wieder gehen. Es lässt mir keine Ruhe! Ich möchte mehr über ihn wissen, über Jari Hanonen, so heißt er, dass sagte mir die Krankenschwester. Die Stille des Raumes erfasst mich. Es klingt seltsam, aber ich kann mich weder zu ihm hinsetzen, noch abwenden. Als die Krankenschwester den Raum betritt, reißt sie mich aus all meinen Gedanken. Ich sollte jetzt besser nach Hause gehen.
Der Bus ist diesmal nicht so voll wie vorher, mein Glück. Ich lehne meinen Kopf an die Scheibe, sodass die Sonne in mein Gesicht scheint. In meinen Gedanken bin ich noch immer im Hospital, wie er dort lag... Jari Hanonen, wer bist du? Was denkst du gerade?
Zu Hause wartet mein Kater und beschwert sich miauend, dass ich ihm noch immer kein Futter gegeben habe. Aspirin ist einfach zu anstrengend, er ist der einzige Kater, den ich kenne, der sich permanent über alles beschwert. Aber was soll’s, Aspirin hat menschliche Züge. Und wieso haben eigentlich die meisten Leute eine Katze wenn sie alleine sind? Wer weiß, mir fällt ein, dass ich noch die letzten Folgen meiner Lieblingsserie ansehen muss.
7.30 Uhr. Der Wecker hat nicht geklingelt, dafür aber mein Telefon. Wie nervtötend, ich mache mir ernsthaft Gedanken, ob es eine Einrichtung gibt, wo das Telefon nachts nicht klingelt. Hastig verlasse ich ohne Frühstück die Wohnung, um nicht zu spät im Plattenladen zu erscheinen. Er ist nur ein paar Straßen weiter.
„Du sag mal, Bonnii, deine Freundin arbeitet doch da in diesem Hospital außerhalb der Stadt, nicht wahr?“ fragte ich Bonnii, der gerade ein paar CDs einsortierte. Er schaute mich an wie als wenn er ahnte worauf ich hinauswollte und antwortet skeptisch: „Ja schon. Wieso?“ „Och, ich bräuchte eine Adresse von einem Patienten.“ „Also ehrlich mal, Siiri! Das geht doch nicht!“ Ich ziehe einen Schmollmund und antworte beleidigt: „Och, komm schon. Dafür weiß ich wann die Limited Edition des neuen Daft Punk Albums erscheint und wie viele unser Laden bekommt...“ Bonnii zögert, ich erkenne genau was sich gerade in seinem Kopf abspielt. „Ach Mensch! Welche Adresse soll es denn sein?“ Ja! Eins zu Null für mich, ein Hoch auf die Chefin!
-Mein eigener Atem beginnt mich zu nerven! Schrecklich. Was ist das da vorne? Sieht aus wie ein Fenster. Aber wie kommt es dorthin? Oh, die Tür, anscheinend kommen die Ärzte mich besuchen. Krankenschwestern sind ja so gesprächig! So weiß ich wenigstens was mit mir passiert ist.-
„Terve Jari, da bin ich mal wieder. Siiri, die vom letzten Besuch, weißt du noch?“
–Ach die. Hmm...warum die mich immer besucht. Ich kenne sie nicht einmal. Aber sie ist die Einzige, die sich um mich sorgt.-
Ich beobachte Jaris Gesicht, es ist so leblos. Ein seltsames Gefühl beschleicht mich, als müsse ich ihm etwas erzählen. „Ähm, weißt du, ich besitze einen Plattenladen. Er geht ganz gut und wir haben eine tolle Punk- und Indieabteilung. Interessierst du dich auch für Musik?“ Das war dumm, ich muss ein anderes Thema finden. Mir fällt die Tageszeitung ein, die ich gerade gekauft habe. Vielleicht interessiert ihn was in der Weltgeschichte passiert. In dem kleinen Krankenzimmer ist es warm und stickig. Ich beschließe das Fenster zu öffnen, es ist angenehmer so.
–Vogelzwitschern, sie hat wohl ein Fenster geöffnet. Wie bizarre...ich kann spüren, wie der Wind über meine Haut streift. Bei der Vorstellung einfach die Augen zu öffnen und die Sonne zu sehen, kommen mir die Tränen. Ich sitze hier im Schwarzen, ich will raus! Welcher Tag ist heute? Was geschieht um mich herum?-
„So ähm also, ich habe hier die Tageszeitung, ich erzähle dir mal, was so alles passiert ist. Oh! Es gab einen Brand im Norden Helsinkis. Und irgendwelche amerikanischen Forscher haben eine Studie über das Verhalten von Dackeln bei verschiedenen Nahrungsarten veröffentlicht! Wow, falls du einen Dackel besitzt, gib ihm kein vegetarisches Zeug...“ Irgendwie fühle ich mich wohl. Ich spüre, dass er mir dankbar ist, aber das kann auch nur Schein gewesen sein.
Lange noch blieb ich bei Jari, als ich dann abends in meiner Wohnung ankam, hatte Bonnii eine Nachricht mit der Adresse auf dem AB hinterlassen. Morgen werde ich hinfahren, es klingt nach einem Studentenheim. Ich bin gespannt, was Jari für eine Person ist.
Die Mittagssonne steht direkt über mir. Ich vergleiche die Adresse auf meinem Schmierzettel mit der des Hauses. Stimmt, also einfach klingeln. Nach wenigen Sekunden öffnet sich die Tür, ein junger Mann schaut mich fragend an. „Ja bitte?“ „Terve, ähm ich bin hier um mit Ihnen über Jari zu sprechen. Kennen Sie Jari Hanonen?“ „Ja, ich kenne ihn, er ist mein Mitbewohner. Und was wollen Sie denn wissen? Kommen Sie rein.“ Ich betrete die kleine Wohnung. Der junge Mann weist mich auf ein gemütliches Sofa. „Also ich heiße Siiri Jensen und ich wollte eigentlich nur wissen, was Jari so für ein Mensch ist.“ Ich bin froh, dass der Mann nicht so schrecklich neugierig ist. „Jari, naja, um ehrlich zu sein ist er ein arrogantes Arschloch. Wie sie im Buche stehen. Tut mir Leid, aber es ist so und um ehrlich zu sein, wünsche ich ihm, dass er aus seinem Koma nie erwacht! Ganz ehrlich, so ist es nun einmal.“ Ich hatte plötzlich einen riesigen Kloß im Hals.
-Das Fenster, ich muss zum Fenster gelangen! Das ist meine Chance! Ich muss dieses Fenster öffnen!-
„Siiri sag mal ist alles OK bei dir?“ Bonnii riss mich aus meinen Gedanken. „Nein, alles in Ordnung.“ „Ach ja?! Also ich weiß nicht, was mit dir ist, aber so in Ordnung kann es nicht sein, wenn du die Sex Pistols direkt neben ‚Tango-101 tanzbare Nächte’ stellst!“ Autsch, das ist hart. Aber ich muss immer an Jari denken. Obwohl ich ihn nicht kenne, kann ich mir nicht vorstellen, dass er so ein Mensch ist.
-Da ist es! Ich habe es geschafft, ich muss es nur noch öffnen! Genau einfach öffnen, dann bin ich raus hier!-
Heute fahre ich wieder ins Hospital um Jari zu besuchen. Vielleicht ist er inzwischen aufgewacht und erzählt mir, dass sein Mitbewohner im Unrecht ist und nur neidisch auf ihn war oder dass er sich ab jetzt ändern will.
Als ich sein Zimmer betrete, versetzt es mir einen Schlag in die Magengrube. Alles ist so klinisch weiß. Jari liegt nicht mehr in dem Bett. Es ist neu hergerichtet. Ein Arzt erzählt mir, dass er gestorben ist. Eine Träne kullert über mein Gesicht. Jetzt hat er nicht einmal mehr die Chance etwas zu verändern.
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